Meine Lippe wurde taub. Je öfter ich sie mit meinen Fingern vorsichtig berührte, desto mehr versuchte ich nicht daran zu denken, welches Bild ich in diesem Moment abgab und konzentrierte mich auf eine weitere Möglichkeit, mich Adamos Anwesenheit zu entziehen.
Wir befanden uns in einer dunklen Seitenstraße des Paradiso. Wie um alles in der Welt sollte mich hier jemand ernst nehmen und schaute an mir herunter.
„Mir ist kalt.“, begann ich schließlich unser Schweigen zu brechen. Abwertend schaute ich ihn an. Die einzige Reaktion, zu der er fähig war, war die, sein Handy aus der Hosentasche zu holen und eine Nummer zu wählen. Je kälter mir wurde, desto klarer wurde ich schließlich in meinem Kopf. Mich erreichte mehr und mehr der Drang, ihn davon in Kenntnis zu setzen, dass der Abend für uns beide an dieser Stelle beendet war und ich keinen Wert mehr auf seine Anwesenheit legte.
Je mehr sich mein neuer Entschluss in meinem Bewusstsein manifestierte, desto mehr wechselte meine emotionale in eine körperliche Gegenwehr. Ich versuchte mich, aus seinem Griff zu befreien und begann, immer energischer an seinem Arm zu ziehen.
„Lass mich los!“, schrie ich ihn an.
„Reiß Dich zusammen!“, schrie er zurück und hielt mich um so kraftvoller fest. Immer wieder landeten daraufhin meine Fingernägel in seinem Antlitz und verursachten die kleinen und doch so schmerzhaften Spuren. Es dauerte einen Moment, bis ich mich von ihm gelöst hatte. Ruhe kehrte ein und ließ uns für eine kurze Weile bewegungslos gegenüber stehen.
„Adamo. Warum lässt Du mich nicht einfach gehen?“, flehte ich ihn an, unterdessen ich ein paar Schritte nach hinten trat.
„Du weißt doch gar nicht mehr was Du da tust.“
Für einen kurzen Moment schien er über meine Worte nachzudenken. Ohne auch nur mit einer Silbe auf meine Bitte einzugehen, stürmte er jedoch wie von Sinnen erneut auf mich zu und ergriff meinen Arm. Während ich unter seiner Unnachgiebigkeit weiter rebellierte, spürte ich plötzlich jemanden dicht an uns vorbei hasten. Wie ignorant konnte ein Mensch eigentlich sein? Hatte er nicht gesehen, wie sehr ich die Anwesenheit meiner Begleitung scheute und schaute der Person hinterher. Noch im selben Moment las ich das Bild, das wir beide in diesem Augenblick abgeben mussten. Ein Liebespaar das sich streitet, dachte ich, mehr nicht. So sehr ich mir auch seine Hilfe wünschte, das ihm dargebotene Schauspiel schien ihn nicht im Geringsten zu interessieren.
„Können Sie mir bitte helfen?“, rief ich der Person zaghaft hinterher.
„Können Sie mir bitte helfen.“, schrie ich regelrecht, nachdem ich festgestellt hatte, dass mein erster Versuch offensichtlich unbeachtet geblieben war.
„Haben Sie mich gemeint?“, hörte ich die Person von weitem urplötzlich in meine Richtung fragen. Mit versteinerter Miene zog mich Adamo dichter zu sich heran.
„Es ist alles in Ordnung.“, versuchte er sich mit fester Stimme zu behaupten.
„Gehen Sie ruhig weiter. Bloß ein kleiner, belangloser Streit. Mehr nicht.“
Stille.
„Wenn ich mich nicht getäuscht habe, waren das gerade Worte einer Frau. Bist Du eine Frau? Redest Du wie eine Frau? Kann man Dich ficken wie eine Frau?“, sprang es aus dem Unbekannten kämpferisch heraus.
Stille.
„Ist bei Dir alles in Ordnung?“, fragte er mich nach einem flüchtigen Blick in die Richtung aus der er gekommen war. Fasziniert starrte ich auf die Anatomie dieses Mannes, kurz darauf in sein angespanntes Gesicht.
„Nein, es ist überhaupt nichts in Ordnung. Dieser Mann hält mich gegen meinen Willen fest und tut mir weh.“, antwortete ich und deutete auf Adamo. Ich wollte sterben. Der Fremde kam immer näher und begann, Adamo von oben bis unten zu mustern.
„Stimmt das, Du Arschloch?“, flüsterte er bedrohlich. Adamo rang nach Worten, doch noch während er versuchte, die richtigen zu finden, erhielt er einen mächtigen Schlag auf die Brust.
„Ist bei Dir jetzt alles in Ordnung?“
„Schon besser.“, erwiderte ich von seiner Vehemenz beeindruckt.
„Sie ist doch bloß eine Nutte.“, hörte ich plötzlich Adamo auf dem Boden liegend stöhnen. Mein Blick wechselte zwischen Adamo und dem Unbekannten, der sich im selben Augenblick wieder zu entfernen schien.
„Entschuldige bitte.“, rief ich ihm panisch hinterher.
„Könntest Du mich mitnehmen?“
„Dort hinten stehen Taxis.“, entgegnete er, ohne auch nur im Geringsten von der Schnelligkeit seines Laufschritts abzuweichen.
„Ich habe kein Geld.“, startete ich einen letzten Versuch.
„Kannst Du mich ein Stück mitnehmen? Bitte!“
Er hielt abrupt an und schaute hilfesuchend nach oben.
„Und wo endet dieses Stück?“
Je mehr ich über seine Worte nachdachte, desto mehr senkte sich mein Blick Richtung Asphalt. Ich wusste es nicht und begann mich mit meiner ganz eigenen Philosophie seines eben Gesagten zu verbinden. Wo endet dieses Stück, wiederholte ich in Gedanken und ließ den zurückliegenden Abend Revue passieren.
„Vor dem De l’Europe.“
Stille.
„Dort hinten stehen Taxis.“
Nachdem er losgefahren war, starrte ich ihn vom Beifahrersitz ununterbrochen an, streifte er sich plötzlich einen Schlagring von seiner rechten Hand und wischte ihn mit einem Tuch ab.
„Das schöne Tuch.“, flüsterte er leise, während sich der Stoff augenblicklich mit Blut vollsog.
„Du blutest?“, fragte ich schockiert. Soweit ich mich erinnern konnte, hatte Adamo von dem Schlag keine äußere Wunde davon getragen und betrachtete meinen schwergewichtigen Retter in der Not nur um so mehr. Während ich auf eine Antwort wartete, lenkte er den schwarzen Jeep mit überhöhter Geschwindigkeit durch die Nacht.
„Das ist nicht mein Blut.“, antwortete er nüchtern.
„Das ist nicht mein Blut.“, wiederholte er und lachte laut los.
Stille.
„Kennst Du Popeye?“
„Ja?“, antwortete ich verwundert.
„Kannst Du Dich an die Szenen erinnern, in denen Popeye zuschlägt?“
Mein gespieltes Lächeln schien nicht überzeugend genug gewesen zu sein, denn sein fröhliches Gemüt wechselte ebenso schnell wie die Geschwindigkeit unseres Gefährts.
„Dir sagst Popeye nichts?“, fragte er sichtlich enttäuscht.
„Doch doch. Ich kann Dir nur gerade nicht folgen. Tut mir leid.“, entgegnete ich ihm und wandte meinen Blick wieder nach draußen. Popeye. Natürlich kannte ich Popeye, doch worauf genau spielte er an? Schien es hier in Amsterdam nur Narren zu geben und lenkte meine Aufmerksamkeit wieder auf das blutige Tuch. Wenn das Blut weder von ihm, noch von Adamo stammte, musste es von einem Dritten stammen, was wiederum seine Hast erklärte, der er auffallend besessen gefolgt war und ertastete im selben Moment erneut den im weichen Stoff eingehüllten Ring. Ohne erneut meine Neugier an ihn richten zu können, vibrierte sein Handy.
„Ich höre.“, sprach er leise, während ich das Tuch nach wie vor fragend in meinen Händen hielt.
„Ich kann gerade nicht reden.“, sprach er weiter und schaute vorsichtig zu mir.
„Ich melde mich später.“
Unterdessen er das Telefon wieder wegsteckte, öffnete ich vorsichtig die Hand, mit der ich seit geraumer Zeit Isabellas Geldschein festhielt. Geistesabwesend faltete ich den Schein Stück für Stück auseinander. Ich schaute auf das Papier und dachte an Isabella. Nachdem ich den Schein umgedreht hatte, erkannte ich urplötzlich eine mit Kugelschreiber notierte Nummer. So wie sie geschrieben stand, konnte es sich sowohl um eine Telefonnummer, als auch um jede andere Art von Nummer handeln und versuchte, mich an ihre Worte zu erinnern. Über ihre Telefonnummer hatte sie kein einziges Wort verloren. In dem Glauben, dass es sich dabei tatsächlich um ihre Nummer handeln könnte, begann ich zu lächeln.
„Ich denke Du hast kein Geld?“, riss er mich mit einem Mal aus meinen Gedanken. Sein markantes Gesicht forderte geradewegs eine Erklärung. Verlegen schaute ich nach draußen und blieb still. Egal was ich jetzt sagen würde, dachte ich, glaubwürdig wäre kein einziges Wort. Um etwas Zeit zu gewinnen, leckte ich an meiner pochenden Lippe. In der Gewissheit, dass ich zu keiner Erklärung bereit war, fuhr er noch ein Stück weiter, dann hielt er plötzlich abrupt an.
„Raus!“, sagte er in einem leisen aber dennoch rauen Ton. Schockiert starrte ich ihn an. Alles was ich ihm entgegnen konnte, war ein zaghaftes nein.
„Du Schlampe steigst sofort aus meinem Wagen!“, schrie er mich unvermittelt an. Panisch schaute ich mich um. Ich rang nach Luft, nach Worten, doch je mehr Sekunden vergingen, desto mehr unterließ ich den Versuch einer glaubhaften Interpretation und fand mich mit seiner unbarmherzigen Natur ab. Ich unternahm keinen Versuch, ihn von meiner misslichen Lage zu überzeugen. Versuchte nicht zu erklären, weshalb ich ihn angelogen hatte und was vor dem Vorfall auf dem Gehweg geschehen war. Schwermütig drückte ich mich gegen die Tür und stieg aus.