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Märzgeburt /// Gefühl und Verstand

Kaum hatte ich den Lift verlassen, stand ich in einem schier riesigen Wintergarten. Wände, Decken, selbst weite Teile des Fußbodens waren aus Glas und verschafften dem Raum eine sagenhafte Transparenz. Brennende Teelichter in kleinen durchsichtigen Gläsern säumten den Weg in das Innere des Lokals, dem ich zunächst nur mit meinen Augen neugierig folgte. Überall standen reich verzierte Amphoren, die mit verschieden farbigen Hortensien bepflanzt waren und diesem Ort abschließend eine überaus märchenhafte beinahe schon kitschige Atmosphäre verliehen. Das genaue Gegenteil zum Foyer. Von dieser eindrucksvollen Stimmung überrannt, setzte ich langsam einen Fuß vor den anderen. Mit ausgestreckten Armen den seidenen, ebenso transparenten Vorhängen an den Wänden folgend, erkannte ich plötzlich die schemenhaften Umrisse einer Frau.


„Herzlichen Willkommen im Maja.“, begrüßte sie mich schon von weitem und lächelte mich liebevoll an.
„Sie haben reserviert?“, verlautbarte sie, sobald ich direkt vor ihr stand eher feststellend, denn fragend.
„Nein?“
„Darf ich um Ihre Membercard bitten?“
Schweigen.
„Sie haben eine Withecard?“
Schweigen.
„Um ehrlich zu sein, habe ich weder das eine noch das andere.“
Nachdenklich schauten wir uns an.
„Ich begleite meinen Freund und kann Ihnen allenfalls seinen Namen nennen.“
„Namen werden bei uns leider nicht vermerkt.“, schubste sie das Gespräch weiter voran. Obschon es ihren Gepflogenheiten widersprach, nannte ich ihr seinen Namen.
Sobald ich ihn ausgesprochen hatte, folgte ich ihrem konzentrierten Blick auf den Seiten des Empfangsbuches. So sehr ich auch hoffte, ein positives Zeichen ablesen zu können, ihr Engagement blieb ohne Erfolg.
Die Vorstellung, seinen Namen dennoch jeden Moment von ihren Lippen ablesen zu können, ließ mich zunehmend gefasster werden und meine Befürchtung mit aller Macht verdrängen.
Die Zuversicht starb in dem Moment, in dem ich beiläufig auf meine Armbanduhr schaute. Es war mittlerweile kurz nach halb zwölf. Damit war ich über eineinhalb Stunden zu spät. Ich konnte zwanzig, womöglich dreißig Minuten entschuldigen, doch über anderthalb Stunden? Resignierend biss ich mir auf die Unterlippe und schaute mich um.
Mittlerweile war so viel Zeit vergangen, dass er das Restaurant bereits wieder verlassen haben konnte und fand den plötzlich aufkommenden Gedanken, ihm vorzuwerfen, mich nicht darüber in Kenntnis gesetzt zu haben, vollkommen absurd.
„Ich habe ihn.“, verlautbarte sie plötzlich zu unser beider Verwunderung.
„Der Herr hat das Restaurant jedoch bereits wieder verlassen.“, mündete ihr Antlitz in einer entschuldigenden Geste.
Schweigen.
„Können Sie mir vielleicht sagen, in welcher Verfassung er sich befand, als er das Restaurant verließ?“
„Leider nicht, doch ich schaue gerne nach, ob er eine Nachricht für Sie hinterlassen hat. Wenn Sie mir bitte Ihren Namen nennen möchten.“
Dafür das Namen keine Rolle spielten, waren mit einem Mal überraschend viele im Gespräch.
„Olivia.“, begann ich demütig zu flüstern.
„Wie bitte?“
„Mein Name ist Olivia.“, wiederholte ich deutlich gefasster.
„Einen Moment bitte. Ich bin gleich wieder bei Ihnen.“
 
 
Es war weniger das Verständnis darüber, dass er mich an diesem Abend wiederholt nur aus geschäftlichen Gründen dabei haben wollte, als vielmehr das bereits im Ansatz fehlende Interesse an einem gemeinsamen Abend, das meine Aufmerksamkeit bezüglich dieses Geschäftsessens geringfügig gehalten hatte. Und so hatte eben dieses Interesse erst in dem Moment eingesetzt, als er erwähnte, dass sein Geschäftspartner eine Schwäche für junge, attraktive Frauen in Latex besaß.
Mein Gefühl versuchte die Verspätung zu entschuldigen. Kaum hatte es die Bühne verlassen, spürte ich meinen Verstand, der die Tatsache, dass es lediglich einer grotesk wirkenden Anstrengung bedurfte, um pünktlich zu sein, sofort etablierte. Dieses Mal genau wie all die anderen Male, in denen ich ihm meine Gleichgültigkeit zur Schau gestellt hatte. Während die Gewissensbisse an mir zerrten, setzte ich mich auf eine Couch.
Ich spürte Hitze und Kälte gleichermaßen. Nicht nur, weil ich auf Grund des Latexkleides seit geraumer Zeit ordentlich schwitzte, sondern auch, weil ich mich mit jedem neuen Atemzug immer wieder meinem geschundenen Pflichtbewusstsein unterwarf. Kaum hatte die Angestellte das Entree wieder betreten, erkannte ich aus dem Augenwinkel ein Kuvert in ihrer Hand.
 
 
„Vielen Dank für Dein Engagement.“, las ich die an mich gerichteten Worte. Ich wusste um seine sarkastische Ader und darum, dass diese Worte genau so gemeint waren.
„Möchten Sie dennoch bei uns bleiben?“, versuchte sie meine Gedankengänge behutsam zu unterbrechen.
„Geht das denn, so ohne Karte?“, lockte ich ihre Frage in die Ironie.
„Selbstverständlich.“, lachte sie mich mit einem breiten Grinsen an.
Schweigen.
„Warum eigentlich nicht. Ist es möglich, vorher noch schnell zu telefonieren?“
„Selbstverständlich.“
Abwartend schauten wir uns an.
„Mit Ihrem Telefon? Ich habe meins vergessen.“
 
 
Unzählige Sekunden vergingen, ehe mein Anruf weggedrückt wurde und der Rufton kollabierte. Ohne es noch einmal zu versuchen, legte ich auf.
Unterdessen ich ihr durch das Restaurant folgte, erschloss sich mir mit einem Mal der Grund dafür, weshalb ich es auf der Straße nicht entdeckt hatte. Nicht nur, dass sich das Restaurant auf dem Dach befand, auch die umläufige Terrasse und damit leicht zurück versetzte Räumlichkeit waren für die Verwirrung verantwortlich.
Als ich meinen Blick wieder in das Innere des Restaurants schweifen ließ, erkannte ich dicke Bambusstäbe, die sporadisch aus dem Boden ragten und dem Raum eine überdimensionale Höhe verschafften. Weiß wurde von ebenso weißen Objekten akzentuiert. Riesige Kronleuchter komplettierten die nahezu pathetisch wirkende Atmosphäre und wärmten das bisweilen kühl wirkende Glas auf generöse Weise ein gehöriges Stück weit auf. Verträumt schaute ich wieder auf die Lichter dieser Stadt.
 
 
Schallendes Gelächter ließ meine Eindrücke mit einem Mal unterbrechen. Kaum hatte ich mich in die entsprechende Richtung gedreht, erkannte ich zwei elegant gekleidete Herren an der Bar, die ihrer heiteren Stimmung auf äußerst hingebungsvolle Art Ausdruck verliehen. In dem Moment, in dem ich sie passierte, ebbte ihre Unterhaltung sprunghaft ab.
Obwohl ich dabei ihren Augen unaufhörlich treu blieb, setzte ich sie über meine Wahrnehmung derart behutsam in Kenntnis, dass ein absolutes Desinteresse genauso in Frage kam, wie der Wunsch, fortan unter allen Umständen bekehrt werden zu wollen.
Wie sehr ich es liebte, genau diesen Zwiespalt zu provozieren. Schließlich bedeutete er beides. Sowohl Hoffnung, als auch Scheitern. Für mich war der Beginn eines Kennenlernens alles andere als kompromisslos definiert. Dabei lag meine Sicht weniger in der Emanzipation begründet, als viel mehr in der Tatsache, dass ich auf diese Weise das Spiel zwischen Verführung und Zurückweisung noch facettenreicher gestalten konnte, als es ohnehin schon war, vorausgesetzt man konnte dieser Kunst etwas abgewinnen. Und so lag die Voraussetzung mich auf einen Mann einzulassen nicht in der Frage verankert, welcher Mann die größte Attraktivität ausstrahlte, sondern viel mehr in der Frage, welcher Mann die Art des Kennenlernen wie gestaltete.
 
 
Unterdessen ich begann, mich ein weiteres Mal in den Lichtern der Stadt zu verlieren, bestellte ich mir etwas zu trinken. Weshalb pessimistisch sein, wenn es vielleicht gar keinen Grund dazu gibt, versuchte ich meine Schuldgefühle über die Brüstung zu schubsen. Ich war zu spät gekommen, doch schließlich lag ihm offensichtlich auch nichts daran, mit mir zu sprechen. Sollten seine Verhandlungen nur auf Grund meiner Abwesenheit gescheitert sein, konnten seine Argumente einfach nicht überzeugend genug gewesen sein.
Als ich erneut dieses schier überschlagene Gelächter hörte, drehte ich mich noch einmal zu ihnen um.
„Hauptsache ihr habt Spaß.“, flüsterte ich leise vor mich hin und begrüßte im selben Atemzug die Fremde an meinem Tisch.

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