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About Olivia /// Die Fremde an unserem Tisch

Sofort nachdem ich das Sultan betreten hatte, verschluckte mich die Geräuschkulisse des nahezu überfüllten Restaurants. Wohin ich auch blickte, überall schaute ich auf reich gedeckte Tische, an denen unzählige Menschen saßen und ihrer Gesellschaft die Ehre erwiesen.
Runde für Runde begann ich plakativ zu mustern. Befand er sich womöglich an einem dieser Tische? Noch im selben Moment gab ich meine Bedenken, dass dieses Treffen allzu intim verlaufen könnte, der Lächerlichkeit preis. Ich wurde unsicher und blieb stehen.
In dem Moment in dem ich wieder kehrt machen wollte, erkannte ich ihn unverhofft an einem Tisch. Allem Anschein nach war er allein und steuerte zielstrebig auf ihn zu.

Erschien mir sein Gesicht unverhofft neu, erkannte ich ihn anhand seiner Statur zweifelsfrei wieder. Nachdem ich seinen Tisch schließlich erreicht hatte, stand er auf und begrüßte mich wie selbstverständlich mit einem Kuss. Unterdessen er mich dabei fest an sich drückte, stellte ich mit Erstaunen fest, dass ich seinen Kuss, wenn auch nur zaghaft, erwiderte. Ich musste von nun an wohl etwas vorsichtiger sein, wenn ich unserer Verabredung nicht doch noch zu einem Rendezvouz verhelfen wollte und schaute verlegen an ihm vorbei.

Während sein Kuss auf meinen Lippen noch immer nachhallte, spürte ich, wie unglaublich vertraut er mir mit einem Mal schien und begann, die vereinzelten Blicke der Nebentische auf uns zu ignorieren. Seine Stärke schien meiner Schwäche nunmehr gegenüber zu stehen und ihre Kräfte zu sammeln. Von diesen Eindrücken vollkommen überrannt, versuchte ich die Wirkung seiner temperamentvollen Natur auf mich zu akzeptieren und starrte ich wie paralysiert auf diesen Mann.

„Alles in Ordnung?“
„Um ehrlich zu sein, war ich auf diesen Kuss nicht vorbereitet.“, antwortete ich kleinlaut.
„Und auf was warst Du vorbereitet?“
Auf was ich vorbereitet war? Auf scheinbar nichts und versuchte das Gleichgewicht wiederzuerlangen.
„Ehrlich gesagt gibt es auch etwas auf das ich nicht vorbereitet war. Champagner?“, unterbrach er seine Ausführung und gab meiner Neugier vorerst einen Korb.
„Gerne.“
„Ehrlich gesagt habe ich mit Deiner Nachricht nicht mehr gerechnet.“
Während er kurz innehielt, schaute er sich vorsichtig um.
„Bevor wir beide einem Schicksal folgen, welches nicht für uns bestimmt ist, lass Dir Folgendes sagen. Wir beide wissen genau, weshalb wir uns gerade wieder sehen, was wir voneinander halten und auch voneinander erwarten.“
Schweigen.
„Nachdem Du Dich gestern gemeldet hast, ließ ich den Abend in meinem Club noch einmal Revue passieren und mich zu der Frage gelangen, was wohl eine Frau wie Dich dazu bewegt hat, in eine Table Dance Bar zu gehen, um zu tanzen. Du bist keine Stripperin und auch nie eine gewesen. Und so kam ich auf einen Beweggrund, der so tiefgründig wie einfach ist. Lust. Pure Lust. Womit sonst lässt sich erklären, weshalb Du es zugelassen hast, dass ich Dich derart berühren konnte, zumal Du gleich darauf wie von Sinnen aus dem Club gestürmt bist? Es war ein Vortanzen. Dein erstes Vortanzen! Keine noch so naive, geschweige denn professionelle Stripperin die ich kenne, hätte das bei ihrem auch nur im Entferntesten zugelassen! Wir kannten uns zudem wie lange? Fünf Minuten?“

Nun war ich es, die sich behutsam umschaute und darauf achtete, ob das ein oder andere Wort an unsere Nebentische gelangt war. Seine grotesken Worte, die Fülle der Menschen um mich herum, das Rauschen der orientalischen Musik, all das schien immer mehr auf mich einzuwirken und für einen atemberaubenden Schwindel zu sorgen. Ich fühlte mich, als ob ich in einem riesigen Karussell saß und versuchte, an irgend etwas festzuhalten. Einzig Orientierung die existierte, schien zwischen meinen Beinen zu pulsieren und hätte am Liebsten geschrien. Doch anstatt zu lachen oder zu weinen oder gar aufzustehen und zu gehen, blieb ich sitzen und übergab mich dem Ungleichgewicht zwischen Lethargie und Leben, übergab mich diesem unglaublich lustvollen Reiz.

Wo war die Absicht, ihm so distanziert wie möglich gegenüber zu treten, wo das Vorhaben, seiner Einladung und damit meiner Neugier lediglich behutsam zu folgen? Es schien, als ob ich Mühe hatte, überhaupt nur einen Hauch von Distanz aufbringen zu können und begrüßte im selben Augenblick die Fremde an unserem Tisch.

„Das ist doch lächerlich.“, versuchte ich seine Worte zu entkräften, ohne zu wissen, wen von uns drei ich eigentlich meinte.
„Lächerlich? Was ist lächerlich? Auf äußerst chauvinistische Weise mit einer Frau umzugehen oder sich als Frau einer solchen zu fügen, um damit gewissen Bedürfnissen nachzugehen?“
Je mehr ich seinen Worten folgte, desto mehr lief ich vor Beschämung rot an.
„Du bist über 25 Jahre älter als ich!“, sprach ich, um der inneren Zerrissenheit entgegen zu treten.
„Mehr hast Du dazu nicht zu sagen? Was heißt das schon? Nichts, außer das ich mit meiner Einschätzung gar nicht so falsch lag!“, entkräftete er meine zugegebener Maßen geringe Anstrengung mit einem Atemzug.
„Dann ist es zumindest unmoralisch!“, versuchte ich der Absurdität seiner wahrhaftigen Worte auf die Beine zu helfen.
„Ich moralisiere nie. Ein Mann, der moralisiert, ist gewöhnlich ein Heuchler, und eine Frau die moralisiert, ist unweigerlich hässlich.“
Hässlich? Ich überlegte, ob er mich damit meinte.
„Oscar Wild.“, führte er mich ins Hier und Jetzt zurück.
„Ich habe einen Freund.“
„Seit wann?“
„Seit ein paar Monaten?“
„War das gerade eine Frage?“
Stille.
„Wusste er von Deinem Auftritt im Lollipop?“
Seine Blicke waren mit einem Mal derart prüfend, dass ich mich nicht mehr traute, bei meinen Antworten zu improvisieren.
„Nein.“
„Und weiß er es jetzt?“
Die Antwort darauf blieb ich ihm schuldig.
„Wenn ich wirklich zu alt bin, weshalb bist Du dann dieser Einladung gefolgt? Dass das hier kein unschuldiges Blind Date wird, war Dir bewusst.“
Irgendetwas an diesem Mann faszinierte mich dermaßen, dass ich zu keiner Antwort mehr fähig war und schaute ihn nur noch an.
„Siehst Du diesen einsamen Mann dort drüben?“
Ich versuchte gegen den anhaltenden Schwindel anzukommen und drehte mich langsam um.
„Ich gehe kurz zu ihm und bin gleich wieder hier.“
Unterdessen sie sich unterhielten, deuteten beide abwechselnd immer wieder auf mich. Kurze Zeit später kehrte er zu mir zurück.
„Ein Freund?“, fragte ich gelangweilt und schaute noch einmal zu dem Fremden zurück.
„Nein.“
„Warum bist Du dann zu ihm?“
„Weil ich ihn kennenlernen wollte.“
Irritiert schaute ich ihn an.
„Und worüber habt ihr euch unterhalten?“
„Über Dich.“
„Über mich?“
„Über Dich und darüber, dass Du ihn sehr sympathisch findest.“
Meine fragende Mimik schien wie festgefroren und schaute noch einmal zu diesem Mann zurück.
„Sympathisch? Ihn? Ich kenne ihn doch überhaupt nicht?“
„Noch nicht.“
„Ich verstehe gerade kein einziges Wort. Was meinst Du mit noch nicht?“
„Ich habe ihm gesagt, dass Du ihn sehr sympathisch findest und, dass Du ihm kurz vor er geht auf der Toilette einen bläst.“
„Du hast sie ja nicht mehr alle!“, schleuderte ich ihm entgegen, stand auf und verließ das Restaurant.

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