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About Olivia /// Wie ich Dir so Du mir

Während ich es mir auf meiner Terrasse gemütlich machte, spürte ich, wie die Erinnerung ein weiteres Mal in mein Bewusstsein drang. Drei Wochen waren mittlerweile vergangen und noch immer schaute ich auf den kurzen aber sehr intensiven Moment.
Ich hatte meinem Freund bis heute nichts davon erzählt und besaß auch jetzt die Gewissheit, es dabei zu belassen. In Bezug auf unser gemeinsames Leben hatte er in der letzten Zeit immer wieder von einem sicheren und vertrauensvolleren Umgang gesprochen.
Wollte er es sicherer und vertrauensvoller machen, weil ihm beides mittlerweile fehlte? Auf Grund der gemeinsamen Erlebnisse mittlerweile durchaus zurecht fehlte? Was war mit meinem eigenen, innerhalb dieser Partnerschaft existierenden Leben? Je sicherer und vertrauensvoller es werden sollte, desto misstrauischer und unsicherer wurde ich.

Was konnte falsch daran sein, wenn wir in den Momenten unserer Entscheidungen lediglich uns selbst folgten, wenn wir aus einer gewissen Eigenverantwortung heraus nur uns selbst folgen sollten? Ich spürte in Bezug auf ihn weder Zweifel, noch Resignation, verlangte aber, dass er sich die Existenz meiner triebhaften Natur ebenso eingestand. Noch im selben Augenblick bezweifelte ich, dass er das wirklich konnte. Auf die Gefahr hin, mich fortan in einem Netz aus Lügen, vorgetäuschten Gefühlen und meinen eigenen Phantasien zu verfangen, würgte ich meine Gedanken ab.

Währenddessen sie dennoch immer wieder auftauchten, ging ich ins Schlafzimmer. Wie der Abend wohl ausgegangen wäre, wenn er nicht gewesen wäre und begann, mich nach seiner Visitenkarte umzuschauen. Nachdem ich sie einen Moment später in den Händen hielt, fiel mir auf, dass ich sie in diesem Augenblick das erste Mal genauer betrachtete.
Unterdessen ich wieder zurück auf die Terrasse lief, begann ich mich zu fragen, welcher Zwiespalt größer war? Der, eine Visitenkarte zu verlieren und den Menschen nicht mehr zu erreichen zu können oder der, die Visitenkarte in den Händen zu halten und zu überlegen, ob man sich melden sollte oder besser nicht?

Ich legte mich wieder auf die Sonnenliege und schaute in den Himmel.
Ich schätzte ihn auf höchstens einen Meter achtzig. Das Alter hatte ich schon an diesem Abend schwer schätzen können und versuchte es mit Anfang 50. Anfang 50? Dieser Mann war womöglich über 25 Jahre älter als ich und ich überlegte, ob ich ihn noch einmal wieder sehen wollte? Scheinbar endgültig überzeugt, legte ich die Visitenkarte wieder weg. Je öfter ich jedoch dem Zigarettenqualm folgte, desto häufiger schaute ich auf sie zurück. So sehr ich auch versuchte, mich mit meinem Entschluss abzufinden, ich kam nicht umhin, mir immer wieder seine Wirkung auf mich in Erinnerung zu rufen. Dabei war er überhaupt nicht mein Typ. Lag der Grund meines Interesses womöglich genau an diesem Umstand? Interessiert weil nicht mein Typ? Konnte es noch wahnwitziger werden?

Noch im selben Moment gestand ich mir ein, dass mein Gedankengerüst ordentlich schwankte und begann mir vorzustellen, wie unsere Begegnung verlaufen wäre, wenn wir uns in einem Restaurant oder Supermarkt begegnet wären.
Vielleicht lag der Verlauf unseres Kennenlernens überhaupt nicht in seiner persönlichen Verantwortung, sondern hätte in Anbetracht meiner Phantasien einfach von jedem provoziert werden können? Einen kurzen Moment lang hielt ich inne, dann nahm ich mein Handy und schrieb ihm eine SMS.

„Hi. Hier ist Olivia. Du hast mir Deine Karte gegeben. Wenn Du Lust hast, melde Dich.“
Nachdem ich die Nachricht gesendet hatte, überlegte ich, ob ich wirklich das Richtige getan hatte, vor allen Dingen, ob ich wirklich das Richtige geschrieben hatte und las die Nachricht noch einmal durch. Lust. Warum schrieb ich etwas von Lust? Hatte ich nicht so unbedarft wie möglich klingen wollen?
Was war, wenn er mir antwortete oder sich mit mir treffen wollte? Wollte ich ihn wirklich wieder sehen? Die Nachricht war gesendet und schaute noch einmal auf das Display.
„Hi. Was verschafft mir die Ehre?“, dauerte es nur einen kurzen Moment bis ich auf meine Fragen eine Antwort erhielt.
Hi? Was verschafft mir die Ehre? Das war alles? Seine Worte enthielten dermaßen viel Spielraum, dass sie auch in jeden anderen Zusammenhang passten. Genau. Was verschaffte ihm eigentlich die Ehre? Jedem anderen Menschen schien ich jederzeit etwas vormachen zu können, mir jedoch nicht und versuchte zu verstehen, warum ich es dennoch immer wieder tat. Ich hatte geschrieben und er geantwortet. War ich jetzt wieder an der Reihe?
„Woher weißt Du, wer ich bin?“, versuchte ich ihn zu testen. Nur um ganz sicher zu gehen.
„Ich weiß sehr genau wer oder was Du bist!“
Wer oder was ich bin? Obwohl seine Worte meine Skepsis nur noch verstärkte, bemühte ich mich, sie zu akzeptieren. Was sollte ich nun schreiben? Das seine Wirkung auf mich noch immer nachhallte und in meinem Kopf deutliche Spuren hinterlassen hatte? Seine nächste Nachricht erreichte mich spät in der Nacht und offenbarte den scheinbar letzten Versuch.
„Restaurant Sultan. Morgen Abend, 21 Uhr, Tisch 5. Antwort nicht erwünscht.“

Es dauerte eine Weile bis ich den einsetzenden Sinnestaumel realisiert hatte und begann zu schmunzeln. Er wollte mich also wieder sehen. Das was geschehen war, war geschehen, unverhofft und schicksalhaft. Mich nun auf eine Verabredung einzulassen, bedeutete, dem Ganzen einen viel tieferen Sinn zu geben und spürte mein Gewissen. Seiner Einladung zu folgen, bedeutete, diesem Schicksalswink weiter zu folgen und es eben nicht mehr Zufall nennen zu können.

Für mich beinhaltete eine Verabredung noch lange kein Date, auch wenn ich mich mit einem Menschen bereits zum zweiten Mal traf. Dass er mich beim ersten Mal gefingert hatte, versuchte ich zu ignorieren. Was war nur der Grund dieser unbeschreiblichen Neugier und ließ die damit einhergehende Schwäche erneut durch meinen Körper wandern. Er war offenkundig älter und letzten Endes unattraktiver als jeder andere Mann den ich bisher kennengelernt hatte oder jemals kennenlernen wollte.

Sympathie? Ich versuchte mich zu erinnern, wer oder was bisher Sympathie erzeugt hatte und kam zu der Überzeugung, dass das was ich derzeit fühlte, nichts damit zu tun hatte. Es schien größer, existenzieller, vor allen Dingen interessanter. Wenn ich wollte, konnte ich Menschen auf eine äußerst distanzierte Art gegenübertreten und entschied, unser Wiedersehen derartig zu gestalten. Schließlich lag mein Interesse nicht in seiner Person, zumindest nicht vordergründig.

Diesem sonderbaren Zusammenspiel auf den Grund gehen zu wollen, empfand ich als legitim, auch meinem Freund gegenüber und erinnerte mich zudem der neutralen Eigenschaft der soeben gelesenen Worte.

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