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About Olivia /// Die Fremde in mir

„Hast Du schon Erfahrung?“, fragte er mich, kurz nachdem er das rettende Tor mit einem kraftvollen Ruck zugezogen hatte. Mein Herz pochte noch immer dermaßen schnell, dass ich mich an irgend etwas festhalten musste.
„Hast Du schon Erfahrung?“, wiederholte er seine Frage.
„Nein.“
„Nein meint überhaupt keine oder nur wenig?“
„Überhaupt keine.“
„Ok. Kein Problem. Deine ersten Fans scheinst Du ja schon zu haben.“
Er deutete nach draußen.

„Vortanzen von halb neun bis neun. Kein Risiko für uns, keins für Dich. Geld gibt es dafür nicht. Ab neun machen wir die Bar auf. Wenn Du tanzen kannst, kommen wir ins Geschäft. Sollte jemand einen Lollipop wollen, schickst Du ihn zu mir.“
„Was ist ein Lollipop?“
„Ein Lapdance. Den Rest erkläre ich Dir, wenn es soweit ist. Noch etwas?“
„Nein.“
„Durch diese Tür dort kommst Du zur Umkleide.“
Mit jedem neu gewonnen Augenblick begann ich das was ich hier gerade tat, erneut zu hinterfragen. War ich wirklich so selbstsicher wie ich tat? Seine Worte klangen unterkühlt, doch irgendwie auch sympathisch.

Sympathisch? Ich hatte sie ja nicht mehr alle! Je mehr ich meiner inneren Stimme folgte, desto mehr geriet ich auf Neuland, stellten sich immer mehr neue Fragen. Sollte ich bleiben oder lieber gehen? Mein Verstand rebellierte, meine heiße Scham um so mehr. Zu gehen bedeutete, meine Phantasien wie eine Seifenblase platzen zu lassen, bedeutete mein Innerstes zu ignorieren, mich auch in Zukunft immer wieder nur an meinen inneren Bildern festzuhalten, nicht zu wissen, wie sich die Wirklichkeit anfühlte, wohl mit dem Hintergrund, dass ich einst so weit gekommen war. Zu bleiben bedeutete endlich Gewissheit darüber zu erlangen, ob ich das was mir immer wieder schlaflose Nächte bereitet hatte, wirklich wollte oder ob sich der Wunsch nach Realität in Luft auflöste.

Konnte sich die Phantasie als so trügerisch erweisen und der Realität keine Chance geben, nicht im Geringsten eine Chance geben? Mit jedem Kleidungsstück das ich aus der Tasche nahm, wuchs die Gewissheit, dass das was ich hier tat vollkommen verrückt war, mit jedem Kleidungsstück das ich anzog, meine nicht zu stillende Gier. Ich stellte mich vor den Spiegel und schaute mich an.

Nachdem ich wieder an den Bartresen zurückgekehrt war, begann er mich von oben bis unten zu studieren.
„Nett!“, rief er mir zu und reichte mir ein Glas Prosecco.
„Geht aufs Haus und nimmt Dir Lampenfieber.“, versuchte er meinen prüfenden Blick mit einem Augenzwinkern zu entschärfen. Nimmt mir Lampenfieber, wiederholte ich im Stillen. Mir Lampenfieber und Dir die Hemmung, mit mir zu flirten!
„Gehört Dir die Bar?“
„Je weniger Fragen Du stellst, desto besser kommen wir beide aus.“
„Wie alt bist Du eigentlich?“, versuchte er die plötzliche Distanz wieder zu relativieren.
„Fünfundzwanzig.“
„Schönes Alter.“
Sein Blick blieb auf mich gerichtet. Sein Kommentar unbeantwortet. Was er konnte, konnte ich auch.
„Showtime!“, rief er mit einem Mal und deutete auf das Podest. Mit butterweichen Knien betrat ich schließlich die Bühne und begann mich vollkommen unsicher zu bewegen. Ich versuchte mich auf die Musik zu konzentrieren und meinen überaus trockenen Mund zu ignorieren. Immer wieder schloss ich die Augen und umfasste den senkrechten Stahl.
Als ich nach ein paar langsamen Drehungen wieder meine Augen öffnete, erkannte ich einen älteren Mann, der mich vom Tresen aus mit einer Bierflasche in der Hand unentwegt anstarrte. Ich schaute mich um und versuchte mir zu erklären, woher er so schnell gekommen war.
„Mit ihr hätte ich gerne einen Lollipop.“, sprach er mit niederländischem Akzent zum Barkeeper.
Gehörte er zum Personal?
„Sie stellt sich gerade erst vor.“
„Spricht sie deutsch?“
„Ja.“
„Wo hast Du vorher getanzt?“
Stille.
„Wo hat sie vorher getanzt?“, wendete er sich von meiner Ignoranz unbeeindruckt an den Mann hinter der Bar.
„Nirgends.“
Seine Augen begannen zu leuchten.
„Dann will ich erst recht einen!“
„Und ich erst.“, lachte er übermütig, von den Ausführungen des Gastes offenbar animiert.
„Hier ist meine Nummer.“
Der ältere Mann holte eine Visitenkarte hervor und warf sie auf den Tresen. Entgeistert schaute ich ihn an. Glaubte er tatsächlich, dass mich seine Telefonnummer, noch dazu auf diese Art, auch nur im Geringsten interessierte und wandte mich wieder von ihm ab. Unterdessen ich die Stange wechselte und nach ein paar langsamen Drehungen wieder zu ihm schauen wollte, stellte ich fest, dass er nun direkt vor mir stand und mich mit seinen Blicken regelrecht verschlang. Je länger auch ich ihn dabei anschaute, desto deutlicher weckte sich in mir der Wunsch, seine lächerliche Absicht auf eine spielerische zu erwidern und wandte mich ihm voll und ganz zu.

Absurd! Dieser Mann war in jeglicher Hinsicht überhaupt nicht mein Typ und ich dachte daran, seinen Flirt zu erwidern? Warum ignorierte ich ihn nicht einfach und ließ ihn fortan unbeachtet stehen?
In dem Versuch, seine Wirkung auf mich zu verstehen, begann ich seinem Flirt immer schamloser entgegen zu treten und mein Minikleid ganz langsam nach oben zu ziehen. Kurz bevor ich diesem eigenhändig komponierten Wagnis wieder den Rücken kehren wollte, griff er mir plötzlich in den Schritt.
Anstatt seine Hand wegzuschlagen und mich von seiner Annäherung zu distanzieren, ließ ich ihn zu unser beider Verwunderung gewähren und gab seiner fordernden Hand immer mehr Raum.

Wurde ich meiner Phantasie damit überhaupt noch gerecht? Mir schien, als ob das was ich bis heute für eine solche gehalten hatte lediglich der Deckmantel für noch viel mehr war. Während die einen Schmetterlinge im Bauch hatten, hatte ich sie im Schritt.
Es schien, als ob sich die Fremde in mir zeigte. Eine Frau, so wunderschön und trügerisch. Ich setze alles daran, der Situation das Prinzip Ursache Wirkung vor die Füße zu legen und diesen Zustand zu rechtfertigen, doch einzig und allein mein Gefühl begann mir mehr und mehr den Grund für die Akzeptanz seiner vulgären Annäherung zu vermitteln. Weil ich es wollte. Weil ich seit Kurzem in den Strudel meiner Triebhaftigkeit geraten war und in diesem Augenblick anscheinend den Preis für das Rendezvous zwischen Phantasie und Wirklichkeit zahlte.

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