Ein Moment vollkommener Ruhe trat ein. Ein Moment frei von Sorgen, frei von Gedanken, die negativ an mir zerrten, während ich versuchte, stets heiter zu wirken. Doch so sehr ich mich der Wirklichkeit über Wasser auch entziehen wollte, ich spürte den Drang, mich genau dieser Welt immer wieder hinzugeben. Einer Welt, die mir die nötige Luft zum Atmen gab. Einer Welt, die mich gefangen hielt und ein Entkommen schier unmöglich machte. Ich schaute auf die mit Stuck verzierte und einem himmelgleichen Bildnis versehene Malerei an der Decke und schloss die Augen.
Warum verfiel ich der immer wiederkehrenden Einsamkeit? Warum ergriff das Gefühl immer wieder meinen Körper und ließ mich an der Liebe zweifeln? Ich wandte meinen Blick Richtung Fenster. Wortlos begrüßte ich die Spiegelung meiner selbst.
Der Rufton meines Handys riss mich urplötzlich aus der Depression. Nachdem der Ton abgeklungen war, konzentrierte ich mich von neuem auf die Außenwelt und schaute durch mich hindurch. Der Blick über den Kanal ließ mich für einen kurzen Moment durchatmen und folgte den Lichtern der Stadt. So sehr ich auch versuchte, mich zu entspannen, ich kam einfach nicht zur Ruhe.
Er hatte gesagt, dass er mich auch an diesem Abend lediglich aus geschäftlichen Gründen dabei haben wollte und erneut von mir verlangt, dass ich mich ihm und was noch viel bedeutender war, auch seinen Geschäftspartnern so verführerisch wie möglich hinzugeben hatte.
Das er genau das immer wieder von mir verlangte, tat unsagbar weh, verursachte jedoch auch immer wieder diese unbeschreibliche Lust. Immer schneller, immer fordernder, solange, bis ich schließlich aufstöhnte und mit meinen Fingern tief in mir versank.
Ich hatte mich, sehr zum Trotz meiner Erzeuger, für dieses Leben eigenhändig entschieden. Doch ich war kein Teenager mehr. Ich war sechsundzwanzig und in einem Alter, in der andere bereits das Leben lebten, das sie illusorisch glücklich machte. Doch wollte ich dieses Leben? Ich wusste darum und genau deshalb verabscheute ich es. Diese Normalität, diese Gewohnheit, die sich bei mir schon einstellte, wenn ich dreimal hintereinander in das gleiche Café ging. Die Gedanken Generation übergreifender Normalität brachten mich regelmäßig dazu, auf die Toilette zu gehen, um zu kotzen. Ich bekam noch immer das Taschengeld in Form einer schwarzen Amex und spürte keinen Grund, etwas daran zu ändern. Vielleicht hatte er ja genau das erkannt? Vielleicht strahlte ich auch genau das immer wieder aus und ließ mich aus diesem Grund an meinen Affären teilhaben?
Ich nahm mir vor, die Beziehung nach unserer Rückkehr zu beenden. Doch warum nicht gleich? Was ließ mich zögern? Sein Verständnis für mein Wesen, für meine gleichermaßen nach Lust und Schmerz strebende, ironisch betrachtete Frohnatur? Ich entschied, mich an diesem Abend lasziver und reizvoller als sonst zu geben und meiner zugewiesenen Rolle einmal mehr gerecht zu werden.
Ich wollte meinen Freund perfekt aussehen lassen, ihn jedoch auch eifersüchtig machen, ihn meine gerechte Strafe für die regelmäßige Folter spüren lassen und die Aufmerksamkeit seiner Geschäftspartner deutlich mehr als von ihm beabsichtigt auf mich ziehen. Das mir das gelingen würde, wusste ich nur zu gut. In dieser Beziehung war ich mittlerweile ein Profi.
Ich stieg aus der Wanne und zog mir den plüschig weißen Bademantel an. Flauschig umhüllt verließ ich das Bad. Wohnzimmer, Schlafzimmer, Salon, verwundert betrat ich jeden Raum. Keine Spur von ihm. Ich schaute auf mein Handy, schaute nach einem Zettel, schaute nach irgendetwas das seine Abwesenheit erklärte. Nichts. Gedankenversunken schlenderte ich ins Schlafzimmer und stellte mich vor das Bett.
„Wer möchte mich heute Abend begleiten? Elegant und dennoch lasziv.“, murmelte ich vor mich hin und griff langsam nach dem glatten Stoff.
Während ich nach den passenden Schuhen suchte, klingelte mein Handy. Ich nahm das schnurlose Etwas in meine Hand und schaute auf das leuchtende Display. Anstatt seinen Anruf entgegenzunehmen, ließ ich es klingeln. Ich liebte das stimulierende Gefühl, einen Anruf auf diese Art womöglich zu verlieren. Nur noch zwei Mal, dachte ich mir. Zwei, eins und hob ab.
„Würde es Dir etwas ausmachen, ein Taxi zu nehmen? Ich schaffe es nicht mehr, ins Hotel zu kommen. Bis später.“
Seine Worte klangen wie die einer Nachricht auf einer beliebigen Mailbox. Ohne ein weiteres Wort zu verlautbaren und ohne mir auch nur den Hauch einer Chance zu geben, seine Frage zu beantworten, legte er auf. Das Telefon noch in der Hand, versuchte ich mich an den Namen des Restaurants und die Uhrzeit des Treffens zu erinnern. Hatte ich beides vergessen oder hatte er darüber einfach noch kein einziges Wort verloren? Ich rief zurück. In dem Moment des Wartens schlich ich mich vorsichtig zu den großen Fenstern des Salons und spähte nach draußen. Die brennenden Kerzen spiegelten im Glas und verschafften dem Raum eine mystische Atmosphäre. Eine Atmosphäre die zur dunklen Seite der einbrechenden Nacht wunderbar harmonierte. Vorsichtig schmiegte ich mich an den schweren Brokat und musterte meinen Schatten im reflektierenden Licht.
Der Klingelton am anderen Ende der Leitung blieb scheinbar unbeachtet und legte das Handy beiseite. Auf dem Weg ins Bad hörte ich erneut den Rufton meines Telefons und stürmte zurück.
„Bitte, bitte. Nicht auflegen.“ flüsterte ich zähneknirschend vor mich hin, ohne auch nur an mein infantiles Verzögerungsspiel zu denken. Nicht die vertraut unterkühlt wirkende Stimme meines Freundes meldete sich am anderen Ende der Leitung, sondern die einer Frau. Nachdem sie mir erklärt hatte, dass mein Freund nicht ans Telefon kommen konnte, stotterte ich den Grund meines Anrufs heraus. Im selben Moment versuchte ich sowohl ihre Worte zu verstehen, als auch zu ergründen, warum gerade sie an das Telefon gegangen war. Wer war diese Frau und wieso war sie im Besitz seines Handys? Nachdem sie meine Fragen beantwortet hatte, legte sie schließlich auf. Mit hochgezogenen Augenbrauen zerrte ich ihre Existenz in die Sucht. Plötzlich auftauchendes Gelächter im Hotelflur ließ meine Gedankengänge unterbrechen. Irritiert ging ich wieder ins Schlafzimmer und machte mich bereit.